Olfaktorische Begegnung

Im Schlaf Düfte riechen und am Morgen mit einem leistungsfähigeren Gedächtnis aufwachen – das ist eine coole und verlockende Idee…

Ok, ich gebe zu, etwas länger dauert es doch. Ein halbes Jahr, lt. dem Ergebnis einer Studie. Und die Verbesserung sei messbar.

Ganze 226 % mehr an Gedächtnisleistung sollen es sein.

Im Sommer 2023 wurde eine Studie veröffentlicht, in der Wissenschaftler die Verbindung zwischen Geruchssinn und Steigerung der Gedächtnisleistung bei gesunden älteren Menschen untersuchten.

In einem Interview (by Robert Tisserand klick) berichtete der Neurobiologe Dr. Michael Leon (University of California, Irvine),  Mitautor der Studie, darüber.

Die Studie

Overnight olfactory enrichment using an odorant diffuser improves memory and modifies the uncinate fasciculus in older adults (hier)

Ziel der Studie war es, die kognitiven Fähigkeiten gesunder älterer Menschen zu verbessern, da der Verlust dieser Fähigkeiten ein wachsendes Problem darstellt. Es ging dabei darum, eine Methode zu finden, die einfach, kostengünstig und leicht anwendbar ist.

Im Vorfeld war bereits bekannt, dass ein aufwändiges, mehrmals tägliches Riechtraining mit ca. 40 Düften eine signifikante Verbesserung der Gedächtnisleistung erbringt.

Die Forschungsgruppe um Dr. Michael Leon hatte die Idee, mithilfe eines Diffusers nachts für 2 Stunden die Probanden zu beduften. Die Düfte wurden über einen Zeitraum von 6 Monaten jede Nacht gewechselt.  Zu Beginn und am Ende der Studie fanden neuropsychologische Untersuchungen und fMRI-Scans statt.

An der Studie nahmen 43 Personen im Alter von 60 – 85 Jahren teil. Es wurden zwei Gruppen gebildet, eine mit und eine ohne Duftanwendung. Auch wenn die Anzahl der Studienteilnehmer eher gering erscheinen mag, so ist das Ergebnis tendenziell bemerkenswert.

Bei der „Duft-Gruppe“ konnte im Vergleich zur Kontrollgruppe eine „statistisch signifikante Verbesserung der Gedächtnisleistung um 226 % im Rey Auditory Verbal Learning Test“ (Bewertung der verbalen Lern- und Merkfähigkeit  – Wortlisten-Test) nachgewiesen werden.

Die Forschungsgruppe um Dr. Michael Leon kam zu der Schlussfolgerung:

„Eine minimale Geruchsanreicherung in der Nacht führt zu Verbesserungen sowohl der kognitiven als auch der neuronalen Funktionen. Somit kann die olfaktorische Anreicherung einen wirksamen und wenig anstrengenden Weg zur Verbesserung der Gehirngesundheit darstellen.“

Riechen hat die Nase vorn …

Dr. Michael Loen sprach davon, dass sich das „Diffundieren“ ätherischer Öle (Weg über den Geruchssinn) von der Aromatherapie (Verabreichung meist über die Haut/Blut-Hirnschranke), in diesem Falle effektiv unterscheidet.

Die Schnelligkeit der Verarbeitung eines Duftes über die Nase und den neuronalen Weg erfolgt oftmals im Bruchteil einer Sekunde und spiegelt sich sichtbar in der Physiognomie und im unmittelbaren emotionalen Erleben wider.

Duftmoleküle sind im Grunde nicht aufzuhalten, sie befinden sich in freier und direkter Fahrt auf der  „Autobahn“ zum Gedächtnis- und Gefühlszentrum.

Stört die nächtliche Beduftung denn nicht unseren Schlaf?

Nein, das tut es nicht.

Der Grund ist, dass der Geruchssinn keine Verbindung zum Schlafzentrum hat, dazu müsste er mit der  Steuer- und Schaltzentrale „Thalamus“ im direkten Kontakt stehen.

Der Thalamus hat eine Standleitung zum Schlafzentrum und leitet wichtige sensorische Signale und Reize (auditorische, visuelle, taktile und kinästhetische) zur Verarbeitung weiter.

Hingegen sendet der Geruchssinn die Geruchs-Informationen unverzüglich und direkt an die Gehirnregionen (Limbisches System), die Gedächtnis, Erinnerungen (Hippocampus) und Gefühle/Emotionen (Amygdala) beinhalten.

Der Thalamus wird dabei quasi außen vor gelassen … und so können wir trotz Beduftung getrost weiterschlafen, falls unsere Träume durch den Duft nicht zu aufregend (schön) sind …

Es ist ein gutes Gefühl, zu wissen, dass es Brandmelder gibt, die nachts über uns wachen …

Allerdings kann uns ein Brandgeruch durchaus wecken, wenn er im Geruchsgedächtnis mit einer negativen emotionalen Situation (traumatisches Erlebnis) abgespeichert ist. Möglicherweise schrecken wir aus einem Albtraum hoch und sind wach…

Was mich an dieser Studie angenehm überraschte

  • Es wurden ätherische Öle verwendet, statt synthetische Duftstoffe bzw. Isolate.
  • Eine Verwendung von Einzeldüften (pro Nacht ein Duft), keine Duftmischungen, da die Reize durch Einzeldüfte direkter sind als in einer Duftmischung.
  • Ferner wurde darauf geachtet, dass die Düfte als angenehm empfunden wurden.
  • Bei den ausgewählten ÄÖ handelte es sich u.a. um: ROSE, ORANGE, EUKALYPTUS, ZITRONE, PFEFFERMINZE, ROSMARIN und LAVENDEL.
  • Um ein hohes Niveau an Reizen für den Geruchssinn anbieten zu können, wurde Wert auf möglichst polare Duftsignaturen gelegt.
  • Es ging bei der Auswahl der Düfte nicht darum, wofür sie „gut sein könnten“, sondern es ging um Abwechslung, Vielfalt und Komplexität der Düfte.

Sieben Düfte

Alle Teilnehmer (auch die Kontrollgruppe) bekamen einen persönlichen Diffuser zur Verfügung gestellt. Er war mit Patronen zu bestücken und sollte vor dem Einschlafen per Knopfdruck gestartet werden. Für die Kontrollgruppe waren die Patronen ohne Duft.

Als Nebeneffekt dieser nächtlichen Duftstimulation profitierte auch die Schlafqualität davon, sie verbesserte sich in der „Duft-Gruppe“.

Nach Dr. Michael Leon führt auch eine Duftstimulation „… bei älteren Erwachsenen mit Demenz zur Verbesserung des Gedächtnisses und verbessert ihre Depressionssymptome um 325 % …“.

Bei Menschen mit PTBS würde die nächtliche olfaktorische Stimulation das Auftreten von Albträumen minimieren bzw. ganz beseitigen.

Bei diesen genannten Anwendungsbereichen möchte ich allerdings darauf hinweisen, dass bei der Duftauswahl größtmögliche Achtsamkeit im Vordergrund stehen sollte. Unangenehm empfundene Düfte sind in diesem Zusammenhang besonders zu vermeiden, da sie zu unerwünschten Effekten führen können.

Gerade bei der Verwendung von Düften (ätherische Öle) zählen nicht allein die biochemischen Inhaltsstoffe und deren pharmakologische Wirkprinzipien. Die Duftinformation eines ätherischen Öles spricht ein bedeutendes Wort mit.

Es steht die Frage im Raum, welche der Duftinformationen in Interaktion mit dem emotionalen Geruchsgedächtnis geht und welche Erfahrungen dazu abgespeichert wurden.

Hinschauen, hinhören, eine gute Beobachtungsgabe und spezielles Fachwissen sind Voraussetzungen, um eine Retraumatisierung über die Düfte zu vermeiden. Das gilt ebenso für Menschen mit Demenz.

Es ist ausgesprochen sinnvoll, die „olfaktorische“ Biografie eines Menschen zu erkunden und ins Blickfeld zu ziehen, um einen positiven Effekt zu erzielen.

Unsere Atemluft ist voller Geruchs-Informationen, ob wir sie bewusst oder unbewusst wahrnehmen.

Welche Bedeutung Gerüche für uns haben, hängt vom Grad der emotionalen Erregung im Augenblick des ursprünglichen Riechkontaktes und von den Vernetzungen zwischen Geruch, Emotion und Situation ab. All das wird im Geruchsgedächtnis abgespeichert und ergänzt die vorhandene evolutionäre Geruchs-Datenbank.

Alzheimer & Co mögen keine Parfümeure und Sommeliers

In vorausgegangenen Untersuchungen zeigte sich, dass bei Parfümeuren und Sommeliers die Gedächtniszentren auffallend vergrößert waren. Diese Personengruppen erfahren reichhaltige olfaktorische Stimulationen. Ihr Gehirn ist immer wieder neuen (Geruchs-)Reizen ausgesetzt, sodass das Geruchsgedächtnis ein regelrechtes „Muskelaufbautraining“ erfährt.

Das Gedächtniszentrum profitiert enorm davon und bietet kaum die Chance für Alzheimer & Co.

Warum sollten wir also nicht unsere Nase in allerlei duftende Angelegenheiten stecken? Führen wir sie doch spazieren, setzen sie auf die Duftspur und gehen mit ihr auf Entdeckungsreise: ins Blumengeschäft, in die Gemüseabteilung des Supermarktes, in den Wald oder wohin auch immer …

Es kostet nichts, dafür hat es einen unschätzbaren Wert für unsere geistige und emotionale Gesundheit.

Wenn wir allerdings immer wieder dieselben oder gleichen Gerüche unserer Nase präsentieren, wird sie sich gelangweilt zurückziehen. Es tritt eine olfaktorische Adaption ein, und damit hat es für das Riechhirn den Reiz verloren.

D.h., wenn Riech- und Gedächtnismuskel trainiert werden sollen, braucht es immer wieder neue, reizvolle Impulse, die die Neugierde anstacheln.

Das Gedächtniszentrum beginnt zu verkümmern, wenn es im Laufe des Lebens ungenügend olfaktorische Stimulation bekommt.

An dieser Stelle stellt sich für mich die Frage, welche Auswirkungen wird es haben, wenn unsere Kinder zu viel Zeit in der virtuellen Welt verbringen und ihre Nasen nichts Neues erfahren, wenn olfaktorische Reize aus der Natur und dem sozialen Umfeld fehlen bzw. minimiert sind?

Riechen bildet…

Riechen, Geruchsinformationen, Geruchsgedächtnis und Emotionen sind wichtige Meilensteine bei der Interaktion mit unserer Umwelt.

Übung:

Schließ die Augen, atme aus und lass den Duft in dich einströmen, kümmere dich nicht um seinen Namen, sondern versuche sein „Duft-Bild“ wahrzunehmen.

  • Ist dieser Duft angenehm oder eher weniger?
  • Achte auf seine Facetten, welche nimmst du wahr?
  • Verändert sich dieser Duft? Wie?
  • Spüre, wohin er sich in deinem Körper bewegt?
  • Was für Assoziationen weckt er?
  • Welche Farbe würde gut zu ihm passen?
  • Welche Gefühle spricht er an?
  • Worin unterscheidet er sich von anderen Düften?
  • … (deiner Fantasie sind keine Grenzen gesetzt)

Es ist eine wahre Forschungs- und Entdeckungsreise … auch zu dir selbst.

Robert Tisserand formuliertes es sehr treffend:

„Wenn wir dies oft genug tun, sehen wir nicht mehr mit neuen Augen, sondern riechen mit einer neuen Nase und beginnen, anders in der Welt zu sein. Der Geruch verändert uns. Wir lernen auf eine neue, ganzheitliche Weise – eine verkörperte Weise. Und langsam, wie beim Erlernen eines Instruments, wird dieses neue Lernen zu einem Teil unseres Wesens.“

Duftgeschichten

Als ich die Namen der verwendeten ätherischen Öle las, nahm ich zunächst an, es handle sich um eine Mischung, die in dieser Studie zum Einsatz kam. Ich fragte die Teilnehmerinnen aus dem Duftkommunikations-Seminar welche Duftgeschichten diese 7 ätherischen Öle wohl erzählen könnten.

Hier ein Beispiel dazu:

„Mich erinnern die Öle an einen Sommertag in meinem Garten. Ich stehe auf der Terrasse, neben mir das Zitronenbäumchen in der Mittagssonne, voller gelber Früchte, Blüten und Knospen zur selben Zeit. Ich trinke aus einem Glas mit Pfefferminzblättern, sie kühlen den Kopf und beruhigen den Bauch, frische Orangescheiben bringen die Süße des Lebens dazu.

Mein Blick wandert zur Königin in meinem Garten. Die Rose. Mit betörendem Duft lockt sie Insekten in ihre Mitte. Eine Meisenfamilie lebt geborgen im Schutz der Stacheln. Ihr zu Füßen breitet sich die Pfefferminze aus. Ich sehe den Rosmarin und er erinnert mich, das noch einiges zu tun ist. Ich schnuppere am Lavendel und entscheide mich ganz ohne Emotion den Eukalyptus umzutopfen.“ (Cornelia M.)

Düfte inspirieren und regen die Fantasie an …

 

Danke an Prem Bali für dein geduldiges Ohr und Auge.

 

 

226% mehr Gedächtnisleistung & Olfaktorische Stimulation im Schlaf
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6 Kommentare zu „226% mehr Gedächtnisleistung & Olfaktorische Stimulation im Schlaf

  • 24. Mai 2024 um 8:50 Uhr
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    Liebe Christine,
    Das ist wieder ein spannender Aspekt unserer lieben Düfte!
    Danke fürs Teilen!
    Liebe Grüße
    Myriam

    Antworten
  • 24. Mai 2024 um 15:14 Uhr
    Permalink

    Das ist total spannend!! Vielen Dank für diesen super Artikel ! Kerstin

    Antworten
  • 25. Mai 2024 um 11:48 Uhr
    Permalink

    Liebe Christine,

    Wie wunderbar wieder die Wissenschaft beweist was wir schon lange wissen: ätherische Öle tun uns einfach gut- im Wachen wie im Schlafen- solange es auch Wohlfühldüfte sind. Danke für deinen umfangreichen Bericht.

    Duftende Grüße
    Regina

    Antworten
  • 25. Mai 2024 um 15:08 Uhr
    Permalink

    Super interessant! Und wäre so wie wichtig in vielen Einrichtungen!

    Antworten
    • 26. Mai 2024 um 11:48 Uhr
      Permalink

      Liebe Christine, danke für die Weitergabe dieser tollen Studie. Mein Bauchgefühl hat nun seine wissenschaftliche Bestätigung bekommen.
      Ja, es tut uns gut mit „offener Nase 👃 “ durch ’s Leben zu gehen.
      Ganz liebe Grüße von Petra

      Antworten
  • 1. Juni 2024 um 23:41 Uhr
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    Liebe Christine

    So schön und so berührend hast du das geschrieben. Ich könnte ewig weiter lesen. Zu meiner Überraschung der Rosmarin. Wieder mal der Beweis, dass es weder richtig, noch falsch gibt.

    Danke für deine Liebe zu den Ölen und all den Zwischentönen, die sie uns schenken.

    Liebste Grüsse aus der Schweiz, Tamara

    Antworten

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